Sexuelle Gewalt gegen KinderLivestream aus dem Kinderzimmer: klicksafe begleitet STRG_F-Reportage über Cybergrooming auf Likee

Im digitalen Raum können Unbekannte leicht mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt treten. Viele Erwachsene tun dies, um sie sexuell zu belästigen und einen sexuellen Missbrauch vorzubereiten oder den Missbrauch direkt online auszuüben. Sehr viele. Das zeigt eine aktuelle Reportage von STRG_F am Beispiel der Videoplattform Likee. klicksafe hat einen Versuchsaufbau fachlich begleitet, bei dem zwei Journalistinnen in die Rolle minderjähriger Mädchen schlüpfen und live in die Likee-App streamen. Wir erläutern den Versuchsaufbau und informieren wie Sie Kinder vor Cybergrooming schützen können.

Mia ist 13 Jahre alt. Sie turnt, hört gerne Musik, bemalt T-Shirts und versucht, mit der Trennung ihrer Eltern klarzukommen. Luisa ist 12 Jahre alt, sie mag Pferde, mit den Englisch-Hausaufgaben tut sie sich schwer, lieber bastelt sie Freundschaftsbändchen. Beide vereint, dass es sie nicht wirklich gibt. Bei Mia und Luisa handelt es sich in Wirklichkeit um zwei erwachsene Journalistinnen. Sie arbeiten beim Reportageformat STRG_F (produziert vom NDR) und funk, dem Content-Netzwerk von ARD und ZDF. Im Versuchsaufbau gaben sie sich auf der Kurzvideo-Plattform Likee als minderjährige Mädchen aus. Über drei Abende und Nächte hinweg streamten sie live aus zwei Kinderzimmer-Kulissen, um zu prüfen, wie leicht es dort zu Cybergrooming kommen kann.

Die Recherche von STRG_F zeigt eindrücklich, welche Risiken für Kinder und Jugendliche mit einer Nutzung von Apps, wie Likee und insbesondere mit Livestreams einhergehen. Laut Pressemitteilung des NDR kündigte Apple gegenüber STRG_F an, Likee aus dem App Store zu entfernen. Und auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser kündigte an, weitere Maßnahmen zum Schutz von Kindern gegen Cybergrooming treffen zu wollen.

Der Schutz von Kindern gegen Cybergrooming ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Es benötigt politische Maßnahmen, wirksame Schutzmaßnahmen seitens der Online-Dienste und effektive Ermittlungsmethoden, um sichere Surf- und Kommunikationsräume für junge Menschen bereitzustellen. Darüber hinaus benötigt es präventive Aufklärung und Qualifizierung aller Akteur*innen, die im täglichen Leben mit Heranwachsenden zu tun haben. Eine besondere Rolle kommt dabei Eltern und Erziehungsberechtigten sowie pädagogischen Fachkräften zu.

Was ist Cybergrooming?

Bei Cybergrooming treten Personen online gezielt mit Minderjährigen in Kontakt, um einen sexuellen Missbrauch vorzubereiten. Nachdem der Kontakt hergestellt ist, fordern sie explizite Aufnahmen und drängen dazu, sexuelle Handlungen vor der Kamera vorzunehmen. Sie senden Kindern oder Jugendlichen pornografische Inhalte oder versuchen, ein Treffen außerhalb des Internets zu erreichen. Cybergrooming ist nach §176a und §176b des Strafgesetzbuchs strafbar. Nach einer aktuellen Befragung der Landesanstalt für Medien NRW waren bereits 25 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland von Cybergrooming betroffen. Rund jedes vierte betroffene Kind war jünger als 12 Jahre.

→ Weitere Informationen gibt es im Themenbereich Cybergrooming

Was ist Likee?

Likee ist eine Videoplattform mit Sitz in Singapur, bei der ähnlich wie bei TikTok, die Erstellung von kurzen Videos im Vordergrund steht. Nutzer*innen können in Likee auch Livestreams starten. Das bietet die Möglichkeit, in Echtzeit mit anderen zu interagieren - über eine Kommentarspalte, per Direktnachricht oder auch über die Einladung zu einem gemeinsamen Livestream (sogenannte „Kämpfe“). Die Funktion Live-Streaming darf laut den allgemeinen Geschäftsbedingungen von Likee erst ab 18 Jahren genutzt werden. Geben Nutzer*innen bei der Registrierung an, jünger als 16 Jahre alt zu sein, wird seit Ende 2020 automatisch ein eingeschränkter Modus eingestellt. Nutzer*innen können dann nur Videos anschauen und auf anderen Social-Media-Plattformen teilen. Im Kontext des Versuchsaufbaus von STRG_F hat sich jedoch gezeigt, wie einfach es auch auf Likee ist, ein Profil mit falschem Alter anzulegen. So lässt sich die Altersbeschränkung für Livestreams einfach umgehen.

Zum Versuchsaufbau von STRG_F

Das Recherche-Team von STRG_F ist auf mehrere Fälle gestoßen, bei denen es in der App Likee zu Cybergrooming gekommen ist. Für den Versuchsaufbau wurden zwei Kinderzimmer-Kulissen eingerichtet, aus denen die Journalistinnen von STRG_F und funk an drei Abenden und Nächten in die Likee-App streamen sollten. klicksafe begleitete den Versuchsaufbau, um verschiedene Cybergrooming-Strategien fachlich einzuordnen. Damit der Versuchsaufbau in einem rechtlichen Rahmen umgesetzt wird und sexuelle Anbahnungen nicht provoziert werden, galten folgende Verhaltensregeln:

Verhaltensregeln der STRG_F-Redaktion

  1. „Wir nehmen selbst keinen Kontakt auf, sondern antworten nur. Und wir antworten nur Nutzern, die angeben, volljährig zu sein.“ 
  2. „Unsere Kolleginnen sagen klar und deutlich, dass sie 12 und 13 Jahre alt sind.“ 
  3. „Es wird nicht geflirtet, verführt oder provoziert.“ 
  4. „Eindeutige sexuelle Aufforderungen beantworten wir naiv, mit 'Ich weiß nicht...' oder 'Ich bin schüchtern'.“ 
  5. „Freizügigere Fotos werden nur auf mehrmaliges Drängen hin verschickt.“ (Hinweis: Die Fotos wurden vorab erstellt. Ein 30-jähriger Mann posierte dafür im Bikini und mit freiem Oberkörper, nicht etwa die Journalistinnen. Die Fotos wurden anschließend mehrfach bearbeitet, um sie realistisch wirken zu lassen.

Der Versuchsverlauf – Cybergrooming live

Zu Beginn des „Scheinkindversuchs“ wird klar, wie Livestreams auf Likee funktionieren. Da beide Protagonistinnen noch nicht lange aktiv sind, werden viele Bots in die Kommentare des Livestreams gespült – immer die gleichen Kommentare und Emoji-Reihenfolgen, die Mia und Luisa dazu animieren sollen, weiter zu streamen. Die App blendet Tipps ein, wie die beiden mehr Zuschauer*innen erreichen können. Nach wenigen Minuten erhalten ihre Livestreams einen „Boost“, mit dem der Livestream mehr Nutzer*innen angezeigt wird. Immer wenn sich jemand neu zuschaltet, bekommen sie das mit einer kleinen Animation angezeigt. Diese winkt, zeigt den Nutzer*innen-Namen und animiert dazu, "Hallo" zu sagen.

Über die Versuchszeit hinweg schalten sich einige Nutzer*innen immer wieder abwechselnd in die beiden Livestreams dazu und möchten mit Mia und Luisa in Kontakt treten. Es werden auffallend viele Komplimente zum Aussehen gemacht. Beide erhalten immer wieder sexuell belästigende Kommentare und es kommt schnell zu unterschiedlichen Formen von Cybergrooming:

  • Aufforderung, sich auszuziehen
  • Aufforderung zum Senden intimer oder expliziter Fotos
  • Aufforderung, sexuelle Handlungen an sich vorzunehmen
  • Anbieten von Geschenken als Gegenleistung für intime Aufnahmen oder sexuelle Handlungen vor der Kamera
  • Zusendung expliziter Darstellungen (zum Beispiel „Dickpics“)
  • Masturbation vor der Kamera
  • Anbahnung realer Treffen

Beim Cybergrooming versuchen Täter*innen meist nach einer ersten Kontaktaufnahme auf private Kommunikationskanäle zu wechseln. So auch im Versuchsaufbau. Ein Großteil der Täter fordert Mia und Luisa dazu auf, die Kommunikation auf WhatsApp, Instagram oder Snapchat fortzuführen. Dort kommt es in fast allen Fällen direkt zu sexuellen Übergriffen. Lediglich einer der Täter, mit dem der Kontakt zunächst auf Likee und später auf WhatsApp fortgeführt wird, bereitet den sexuellen Missbrauch strategisch langsam vor, um zunächst das Vertrauen zu gewinnen. Dabei testet er unter anderem mit vermeintlich humorvollen Anspielungen auf die weite Entfernung der Wohnorte aus, ob es zu einem Treffen offline kommen könnte. Im Gegensatz zu vielen Tätern, verrät dieser seinen echten Namen, Wohnort und seinen Arbeitsplatz, einen Kinderhort.

Bei allen Tätern, die im Versuchsaufbau auf Mia und Luisa einwirkten, handelte es sich um männliche Personen, meist über 20 Jahren. Bei Tätern, die angaben minderjährig zu sein, wurde der Kontakt sofort abgebrochen. Auch wenn es Hinweise (z.B. durch den Schreibstil) gab, dass es sich vermutlich um eine erwachsene Person handelt.

Kinder brauchen wirksamen Schutz und Begleitung

Kinder und Jugendliche brauchen Erwachsene, die sie im Umgang mit der digitalen Welt kompetent begleiten, ihre Medienkompetenz stärken und sich dabei an ihrer Lebenswelt orientieren. klicksafe bietet Unterstützung mit vielfältigen Materialien für Jugendliche, Eltern und pädagogische Fachkräfte.

Webseminar: Cybergrooming im Livestream – Täterstrategien erkennen

Im klicksafe-Webseminar „Cybergrooming im Livestream – Täterstrategien erkennen“ geben wir Eltern und pädagogischen Fachkräften am 2. Juli von 19.00 bis 20.30 Uhr einen näheren Einblick in die Strategien von Cybergrooming in Livestreams sowie Hilfestellung, wie Kinder und Jugendliche Cybergrooming erkennen und sich vor sexueller Gewalt im Internet schützen können. Sie können sich hier für die Online-Veranstaltung anmelden.

So schützen Sie Ihre Kinder vor Cybergrooming

Sexuelle Gewalt im Internet, u.a. in Form von Cybergrooming, ist heute Realität im Alltag von vielen Kindern und Jugendlichen. Diese bewegen sich immer früher selbstständig in sozialen Netzwerken und Online-Spielen. Anders als offline ist es für Kinder und Jugendliche online normal auch in Kontakt mit Personen zu kommen, die sie nicht wirklich kennen. Heranwachsende müssen deshalb wissen, wie sie Cybergrooming erkennen und sich dagegen wehren können.

  • Bleiben Sie im regelmäßigen Austausch mit Ihrem Kind zu dessen Medienerfahrungen. Wie Sie in gute Gespräche kommen können, zeigen wir in diesem Artikel.
  • Kinder stoßen im Internet schnell auf ungeeignete Inhalte, mit denen sie noch nicht umgehen können. Geben Sie Ihrem Kind deshalb je nach Alter und Entwicklungsstand einen Zugang zu altersgerechten Surfräumen.
  • Nehmen Sie Sicherheitseinstellungen an Geräten vor, die Ihr Kind nutzt. Kostenlose Jugendschutzprogramme wie JusProg können dabei helfen, dass Ihr Kind nur solche Online-Angebote nutzen kann, die je nach Alter auch geeignet sind. Mit älteren Kindern sollten Sie zudem Regeln vereinbaren, welche Dienste wie und in welchem Maße genutzt werden können.
  • Informieren Sie sich genau über Online-Dienste und Plattformen, die Ihr Kind nutzen möchte. Lernen Sie die jeweiligen Schutzmaßnahmen dort kennen und stellen Sie diese mit Ihrem Kind zusammen ein (z.B. Privatsphäre-Einstellungen). Zeigen Sie die Blockier- und Meldefunktionen.
  • Ihre Kinder sollten wissen, welche Risiken mit ihrer Mediennutzung einhergehen können. Klären Sie über ungewollte Kontaktaufnahmen, sexuelle Belästigungen sowie sexuellen Missbrauch im Internet auf. Verängstigen Sie Ihr Kind dabei nicht, sondern unterstützen und stärken Sie es darin:
    • eigene Grenzen zu setzen, wenn es sich online unwohl fühlt
    • Warnsignale zu erkennen
    • ungewollte Kontakte abbrechen und melden zu können
    • sich Hilfe zu holen, wenn es sexuelle Gewalt im Internet erlebt hat
  • Wenn Ihr Kind von sexueller Gewalt betroffen ist und Ihnen davon erzählt ist es wichtig, Ruhe zu bewahren. Hören Sie Ihm aufmerksam zu und treffen Sie die richtigen Maßnahmen wie z.b. rechtssichere Screenshots oder Aufnahmen sichern für die Beweisaufnahme. Suchen Sie sich juristische Beratung beispielsweise bei HateAid und psychologische Hilfe beim Hilfe-Portal sexueller Missbrauch. Erstatten Sie anschließend Anzeige bei der Polizei.

In der Broschüre zeigen wir gemeinsam mit der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), wie Eltern ihre Kinder bei deren Mediennutzung von Anfang an begleiten und gegen sexuelle Gewalt schützen können.

Hier finden Sie Hilfe - Beratung für Betroffene und Angehörige

  • Das „Hilfetelefon Sexueller Missbrauch“ ist die bundesweite, kostenfreie und anonyme Anlaufstelle für Betroffene von sexueller Gewalt. Es steht für Angehörige sowie Personen aus dem sozialen Umfeld von Kindern, für Fachkräfte und für alle Interessierten zur Verfügung. Es ist eine Anlaufstelle für Menschen, die Entlastung, Beratung und Unterstützung suchen, die sich um ein Kind sorgen, die einen Verdacht oder ein „komisches Gefühl“ haben, die unsicher sind oder Fragen zum Thema stellen möchten.
    Telefon: 0800-30 50 750 (kostenfrei und anonym)
  • Das Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch ist ein Angebot der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Es bietet viele Informationen zum Thema und unterstützt dabei, Hilfe- und Beratungsangebote vor Ort zu finden – aber auch online oder telefonisch.
  • Die Nummer gegen Kummer e.V. bietet anonyme und kostenfreie telefonische Beratung für Kinder, Jugendliche und Eltern an. Kinder und Jugendliche können sich außerdem rund um die Uhr an die em@il-Beratung der „Nummer gegen Kummer“ wenden.
    Kinder- und Jugendtelefon : 116 111, Mo bis Sa von 14-20 Uhr
    Elterntelefon : 0800 – 111 0 550, Mo bis Fr von  9-17 Uhr, dienstags und donnerstags bis 19 Uhr
  • JUUUPORT ist eine bundesweite Beratungsplattform, auf der sich Jugendliche gegenseitig helfen, wenn sie Probleme im oder mit dem Internet haben. Ob Cybermobbing, Abzocke, Datensicherheit oder Technik – zu allen Web-Themen können Jugendliche auf www.juuuport.de Fragen stellen.
  • Wer von Cybergrooming betroffen ist, kann diese Übergriffe bei ZEBRA melden. Die Meldung wird von der Medienanstalt NRW überprüft und an die Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime Nordrhein-Westfalen weitergeleitet. Für pädagogische Fachkräfte gibt es ein Handout zum Meldeformular.