Netflix-Serie AdolescenceVon toxischer Männlichkeit und digitalen Codes: Was Eltern und pädagogische Fachkräfte wissen müssen

Die Serie Adolescence zeigt, wie komplex und verheerend die Einflüsse der digitalen Welt auf Jugendliche wirken können – aber auch, wie wichtig Verständnis statt Verunsicherung ist. Nicht jedes Emoji ist ein Warnsignal, nicht jeder Trend problematisch. Entscheidend ist, dass wir Jugendliche nicht mit ihren Erlebnissen allein lassen und sie zugewandt mit Offenheit, Vertrauen und Bereitschaft zum Gespräch begleiten. Serien wie Adolescence können ein guter Anlass sein, um mit Jugendlichen ehrlich über digitale Ausdrucksformen, Zugehörigkeit, aber auch über Ablehnung, Hass und Rollenbilder zu sprechen. Je mehr wir voneinander verstehen, desto besser können wir diese Lebenswelt gemeinsam sicher gestalten.

Der Alltag vieler Jugendlicher spielt sich heute zu einem großen Teil online ab. Das Internet ist längst nicht mehr bloß Informationsquelle oder Zeitvertreib – es ist ein Lebensraum mit eigenen Regeln, Codes und Communities. Genau wie im analogen Leben wird auch dieser Raum von verschiedenen Generationen unterschiedlich wahrgenommen. Die Netflix-Serie Adolescence bringt diese Realität eindrücklich auf den Punkt und wirft dabei wichtige Fragen auf – insbesondere für Eltern, Erziehende und Lehrkräfte.

Adolescence – worum geht es in der Netflix-Serie?

Im ersten Teil dieses vierteiligen Dramas wird der 13-jährige Jamie wegen des dringenden Mordverdachts an seiner Mitschülerin festgenommen. Im weiteren Verlauf der Serie geht es weniger um die Frage, ob er schuldig ist, als vielmehr um sein Motiv, das sich dem Verständnis der Polizei, seiner Eltern und seiner Lehrer entzieht. Thematisiert werden vielschichtige, gesellschaftliche Probleme, die auch digital verhandelt werden. Dabei wird subtil auf Frauenfeindlichkeit und toxische Online Communities, unbemerkte RadikalisierungEmoji–Codes, sowie Cybermobbing und digitale Gewalt unter Mitschüler*innen eingegangen. Die Netflix Serie Adolescence verdeutlicht eindrücklich, wie digitale Räume den Alltag und die Identität Jugendlicher beeinflussen. Dabei existieren Online-Räume nicht losgelöst von der Realität, sondern sind eng mit ihr verwoben. Daher ist es wichtig, Jugendliche analog und digital zu begleiten. Medienkompetenz, offene Gespräche und ein kritischer Blick auf Algorithmen und Online-Inhalte sind essenziell, um junge Menschen zu stärken und sie vor problematischen Ideologien zu schützen.

Warum Emoji-Codes eine tiefere Bedeutung haben?

Während Erwachsene Plattformen wie TikTok oder Instagram oft als Unterhaltungsmedien betrachten, suchen junge Menschen dort auch Zugehörigkeit – manchmal sogar Halt oder Sinn. Diese unterschiedlichen Perspektiven führen leicht zu Missverständnissen – besonders, wenn man nicht dieselbe Sprache spricht. Und damit sind nicht nur Worte gemeint, sondern auch Emojis. Was auf den ersten Blick harmlos wirkt, kann im digitalen Alltag eine tiefere Bedeutung haben. Emojis sind ein fester Bestandteil jugendlicher Online-Kommunikation. Sie ersetzen nonverbale Signale, helfen beim Ausdrücken von Emotionen – und werden je nach Community auf ganz eigene und unterschiedliche Weise genutzt. In manchen Fällen entwickeln sich sogar feste Bedeutungen oder Codes, die für Außenstehende nicht sofort verständlich sind.

In einer Szene der Serie Adolescence wird deutlich, wie Emojis in bestimmten Online-Subkulturen gezielt als Codes eingesetzt werden. In diesem Fall stammen die Zeichen aus der sogenannten „Manosphere“ – einem digitalen Umfeld, in dem unter anderem frauenfeindliche Ideologien verbreitet werden. Die Emojis beziehen sich auf die „Incel“-Community, also Männer, die sich selbst als unfreiwillig alleinstehend sehen und daraus Frustration oder Ablehnung gegenüber Frauen entwickeln.

Beispiele aus der Serie:

Emojis sind jedoch nicht per se doppeldeutig oder gefährlich. In den allermeisten Fällen dienen sie einfach als Wortersatz, der Verstärkung oder dem Spaßfaktor. Eltern und Lehrkräfte sollten sich also nicht von jedem Emoji verunsichern lassen – aber sensibilisiert sein, wenn mehrere Signale auf problematische Inhalte oder Gruppenzugehörigkeiten hinweisen. Weitere Informationen zu Algospeak und der Bedeutung von Emojis finden sich in unserem Artikel.

Toxische Manosphere: Was Empfehlungsalgorithmen damit zutun haben?

Viele Erziehende fragen sich im Zusammenhang mit der Serie, wie sich der 13-jährige Jamie so schnell und unbemerkt radikalisieren konnte. Jugendliche stehen in ihrer Identitätsentwicklung oft unter dem Druck ihrer Peer Group sowie gesellschaftlicher und familiärer Erwartungen. Auf Social Media finden sich neben idealisierten Körperbildern, unterschiedliche Lifestyle-Trends, Coaching-Tipps und Communities. Besonders Jugendliche in der Pubertät sind empfänglich für Vorbilder und orientieren sich an ihnen. Sie lockt unter anderem die Vorstellung, mit der Optimierung des eigenen Körpers Geld und Anerkennung zu verdienen. Dabei können sie unbeabsichtigt auf antiquierte Rollenbilder oder gar in antifeministischen Communities landen. In unserem Themenbereich Influencer finden sich Informationen über problematische Inhalte und Rollenbilder in Sozialen Medien.

Die Studie "Recommending Toxicity: How TikTok and YouTube Shorts are bombarding boys and men with misogynist content" des Anti-Bullying Centre der Dublin City University (DCU) untersuchte, wie Empfehlungsalgorithmen von TikTok und YouTube Shorts jungen Männern und Jungen innerhalb kurzer Zeit nach der Anmeldung frauenfeindliche und männlich-suprematistische Inhalte vorschlagen. Dabei wurden zehn experimentelle Konten auf neuen Smartphones erstellt – fünf auf YouTube Shorts und fünf auf TikTok.

Die Ergebnisse zeigten, dass alle männlich identifizierten Konten unabhängig von ihrem ursprünglichen Suchverhalten innerhalb der ersten 23 Minuten nach Anmeldung mit maskulinistischen, antifeministischen und anderen extremistischen Inhalten konfrontiert wurden. Sobald ein Konto Interesse an solchen Inhalten zeigte, nahm die Menge dieser Empfehlungen rapide zu. Nach 400 angesehenen Videos (etwa zwei bis drei Stunden) waren die meisten empfohlenen Inhalte toxisch: 76 % auf TikTok und 78 % auf YouTube Shorts. Diese Inhalte fielen hauptsächlich in die Kategorien "Manosphere" (Alpha-Männlichkeit und Antifeminismus), wobei insbesondere der Influencer Andrew Tate häufig vorkam – 582 Mal auf YouTube Shorts und 93 Mal auf TikTok.

Die Studie empfiehlt unter anderem eine verbesserte Inhaltsmoderation, das standardmäßige Deaktivieren von Empfehlungsalgorithmen und die Zusammenarbeit mit vertrauenswürdigen Prüfer*innen, um illegale, schädliche und grenzwertige Inhalte hervorzuheben. Zudem wird betont, dass Lehrkräfte im Bereich digitale Medienkompetenz geschult werden sollten, um junge Menschen besser über die Funktionsweise von Influencer-Kultur und Algorithmen aufzuklären. Für Schulen und Familien, die das Thema besser verstehen und Strategien für Gespräche mit jungen Menschen finden möchten, hat die DCU außerdem einen hilfreichen Leitfaden (engl.) veröffentlicht: Addressing the impact of Masculinity Influencers on Teenage Boys - A guide for schools, teachers and parents/guardians.

Podcast der Bundeszentrale für politische Bildung

In sechs Folgen blickt der Podcast „Taking the Red Pill – Einstiegsdroge Antifeminismus“ genauer auf folgende Fragen: Was ist Antifeminismus und warum ist er so anschlussfähig? Wie mobilisieren Männerrechtler, Pick-Up-Artists oder Tradwives mit antifeministischen Narrativen? Und was haben die rechtsterroristischen Anschläge von Toronto, Halle oder Hanau damit zu tun?

Was Eltern und Lehrkräfte tun können

Die Serie Adolescence rüttelt auf und zeigt eindrücklich, dass wir Jugendliche beim Umgang mit schädlichen Onlineeinflüssen angemessen unterstützen und zur Seite stehen müssen.

  1. Offen bleiben: Sprechen Sie mit Ihrem Kind offen über dessen Online-Erfahrungen und Interessen – ohne gleich zu bewerten oder zu urteilen. Ehrliches Interesse zeigen statt Kontrolle ausüben hilft, Vertrauen aufzubauen. Fragen Sie nach, welche Kanäle es spannend findet und warum – das schafft einen niedrigschwelligen Gesprächseinstieg. Hier finden Sie weitere Gesprächsstarter.
  2. Gemeinsam hinschauen: Werfen Sie gemeinsam mit Ihrem Kind einen Blick auf genutzte Apps, Kanäle und Inhalte. Fragen Sie, was bestimmte Symbole oder Trends bedeuten – Jugendliche sind oft bereit, zu erklären. Sensibilisieren Sie Kinder & Jugendliche für problematische Tendenzen bei Influencer*innen. So können sie ihre Idole kompetent und informiert einordnen.
  3. Warnsignale erkennen: Achten Sie auf Verhaltensänderungen, Rückzug, Leistungsabfall in der Schule oder auffällige Aussagen. Diese können Hinweise auf Belastungen oder den Einfluss problematischer Inhalte sein.
  4. Grenzen setzen: Beschließen Sie gemeinsam verbindliche Regeln für angemessene Nutzungszeiten, um eine exzessive Mediennutzung und ein Abdriften in Online-Communities vorzubeugen. Kontrollieren Sie unbedingt deren Einhaltung.
  5. Medienkompetenz fördern: Ermutigen Sie Jugendliche, kritisch mit Online-Inhalten und Botschaften umzugehen. Sprechen Sie über Desinformation, Manipulation und die Funktion von Algorithmen in Social Media.
  6. Hilfsangebote nutzen: Wenn Sie unsicher sind oder das Gefühl haben, dass Ihr Kind in Schwierigkeiten steckt, können Sie sich an Beratungsstellen wie die Nummer gegen Kummer wenden.

Ressourcen für pädagogische Fachkräfte

Im Folgenden stellen wir Ihnen pädagogische Methoden vor, die Sie für die Arbeit mit Jugendlichen nutzen können.

klicksafe: Let's talk about Porno! Baustein 4

In Baustein 4 geht es um sexualisierte Gewalt und digitale Grenzverletzungen. Dabei wird die Rolle von Tradwives, Pick up Coaches sowie Vorstellungen von toxischer Männlichkeit im Sinne der Vorbildfunktion für Heranwachsende kritisch beleuchtet. Die Unterrichtsprojekte in Baustein 4 beschäftigen sich mit grenzverletzendem Verhalten bei Sprache, Musik und digitaler Kommunikation (Klassenchat). Durch Methoden und Handlungsvorschläge in einer Stationenarbeit wird niedrigschwellig vermittelt, wie gegen Übergriffe vorgegangen werden kann.

GMK: Methoden für die politische Medienbildung gegen Hass im Netz

Bei den Methoden stehen die Entwicklung emotionaler und sozialer Kompetenzen, Empowerment durch die Einbindung von Betroffenenperspektiven und Ansätze wie Rollenspiele zur Empathieförderung und Social-Media-Utopien zur Resilienzstärkung im Fokus.

Medien und Bildung RLP: Kartenspiel für Gruppen gegen geschlechtsbezogene Gewalt

Das Kartenspiel „Strategisch reagieren” richtet sich an Jugendliche von 12 bis 18 Jahren. Es hilft, verschiedene Formen von sexistischer Hassrede zu erkennen. Auch lernen Jugendliche, welche Geschlechterstereotypen und Vorurteile eine Rolle bei der Konstruktion der Sprache spielen. Außerdem zeigt „Strategisch reagieren” Möglichkeiten auf, um auf Hassrede zu reagieren. Die Materialien können kostenlos heruntergeladen werden.

menABLE Toolbox zum Thema geschlechtsbasierte digitale Gewalt

Hier finden sich englischsprachige Ressourcen mit Dilemmas und Quizzen (online) sowie interaktive Herausforderungen (offline), die Schüler*innen in Gruppen bearbeiten können.

Fazit

Die Netflix-Serie Adolescence kann als Impulsgeber dienen und bietet eine wertvolle Grundlage für Diskussionen, Aufklärung und eine bewusste Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der digitalen Jugendkultur. In Großbritannien hat die Serie eine gesamtgesellschaftliche Debatte ausgelöst und soll an allen weiterführenden Schulen gezeigt werden, um Jugendliche und Lehrkräfte für digitale Risiken, problematische Rollenbilder und Manipulation zu sensibilisieren. Adolescence ist vor allem ein Aufruf zum Hinschauen und Handeln, denn es besteht ein dringender Bedarf an Medienbildung und Intervention sowie an unterstützenden und sicheren Räumen für junge Menschen.

Vielen Dank an unsere europäischen Awareness Centre Partner aus Irland (Webwise) und Luxemburg (Beesecure).