Selbstverletzendes Verhalten
Mit selbstverletzendem Verhalten (kurz "SVV") beschreibt man Verhaltensweisen, bei denen sich Betroffene absichtlich Verletzungen zufügen. Häufige Arten der Selbstverletzung sind beispielsweise das Ritzen der Haut an Armen und Beinen mit spitzen Gegenständen oder durch Zigaretten oder Kerzen zugefügte Verbrennungen.
Gerade auf den bei Jugendlichen beliebten Social-Media-Plattformen wie etwa YouTube oder Instagram werden häufig Bilder, Videos oder auch Textbeiträge verbreitet, die selbstverletzendes Verhalten als "normal" propagieren oder sogar als erstrebenswert darstellen.
Der Themenschwerpunkt erklärt, in welcher Form Jugendliche im Internet auf bedenkliche Inhalte in Zusammenhang mit selbstverletzendem Verhalten stoßen können und gibt Handlungstipps für Eltern, Pädagog*innen und Angehörige von Betroffenen.
Selbstverletzendes Verhalten im Alltag von Jugendlichen
Studien zeigen, dass selbstverletzendes Verhalten (kurz "SVV") immer häufiger auch im Alltag von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Erscheinung tritt. Der Beginn dieses Verhaltens liegt meist im Alter von 13 - 16 Jahren. Die Pubertät als emotional sehr angespannte Phase ist dabei oft ein Auslöser. Etwa 10 % der Jugendlichen ab 14 Jahren sollen sich schon einmal selbst verletzt haben, etwa die Hälfte von ihnen wiederholt. Mädchen sind dabei häufiger betroffen als Jungen (Quelle: Petermann & Winkel (2007)).
SVV bei Jugendlichen ist keine harmlose Modeerscheinung und keine zu vernachlässigende pubertäre Phase. Es ist als ernst zu nehmendes Zeichen einer krisenhaften Entwicklung zu sehen. Die Verhaltensweisen treten zudem meist in Verbindung mit Depressionen, Suizidgedanken oder Essstörungen auf und können ein Hinweis darauf sein, dass eine seelische Erkrankung vorliegt und die Abklärung mit dem Hausarzt oder einem Experten notwendig ist.
Bei Heranwachsenden gehen den Handlungen intensive innerer Anspannungen und Belastungen voraus. Das Verhalten dient dem Abbau psychischer Spannungen, der Reduktion von Wut, Angst und anderen depressiven Gefühlen. Es bringt zunächst eine kurzfristige Entlastung. Nach dem Akt der Selbstverletzung treten zeitweilig positive Gefühle der Kontrolle, Ruhe und Entspannung auf. Langfristig steigt der Druck zu erneuter Selbstverletzung jedoch wieder, da die eigentlichen Probleme weiterhin ungelöst sind. SVV wird durch die „positive“ Erfahrung der inneren Entlastung zur andauernden Problemlösungsstrategie und erzeugt eine Art Sucht: auf Anspannung erfolgt jeweils Entspannung. Es findet eine Gewöhnung statt, die immer extremere Selbstverletzungen nach sich zieht (tiefere Schnitte, großflächigere Verbrennungen), um den gesuchten inneren Spannungsabbau zu erreichen. Die Gefahr von ungewollten schweren Verletzungen ist groß.
In der Regel liegen dem Verhalten keine Suizidabsichten zugrunde. Im weiteren Verlauf kann es aber zu suizidalen Gedanken kommen, wenn die Jugendlichen keine Unterstützung erfahren.
Bedenkliche Inhalte auf Social Media
Wenn Ritzen und Verbrennungen als normales Verhalten dargestellt werden
Die Präsentation von selbstverletzendem Verhalten hat sich besonders in den bei Jugendlichen beliebten Communities und Videoplattformen zu einem Trend entwickelt (Quelle: Brown, Fischer, Goldwich, Keller, Young & Plener (2018)). Bedenklich sind vor allem Inhalte, die SVV als Symptom psychischer Probleme leugnen und es als normales Verhalten oder Problemlösung darstellen. Dazu zählen insbesondere detaillierte Methodendiskussionen und Erlebnisberichte, also Schilderungen über Schneidetechniken bzw. Tipps zur Wundversorgung, sowie Bilder und Videos besonders tiefer oder stark blutender Wunden. Betrachtet eine SVV-Betroffene oder ein SVV-Betroffener drastische Inhalte, können Erinnerungen an eigene negativen Gefühle und Erlebnisse entstehen, was wiederum den Drang auslösen kann, sich erneut selbst zu verletzen. Diese Wirkung bezeichnet man als Trigger (engl.: "to trigger" = "auslösen).
Bei Social Media Angeboten stößt man außerdem immer wieder auf Profile, Videos und Bilder, in denen Darstellungen von Selbstverletzungen mit Inhalten aus den Bereichen Suizid und/oder Essstörungen kombiniert werden. Die Nutzung multipler Hashtags bringt in der Suchfunktion der Dienste eine ganze Bandbreite extremer Inhalte hervor (Quelle: Ging & Garvey (2017)). Besonders prägnant ist die große Überschneidung bei Suizid- und Selbstverletzungsinhalten. Die Konfrontation mit derartigen Inhalten kann bei Kindern und Jugendlichen gefährdende Verhaltensweisen auslösen oder verstärken, wenn nicht sogar zum Ausprobieren weiterer Gefährdungsarten anregen.
Seriöse Websites und Online-Beratungsstellen
Tipps für Eltern
Tipps für das Verhalten gegenüber Betroffenen
Eltern sollten zunächst immer offen mit ihren Kindern über ihr Internetverhalten und ggf. auch über das Thema Selbstverletzung reden. Grundsätzlich gilt: Sollten Ihnen Internetseiten, Profile oder Gruppen auf Social-Media-Plattformen mit Darstellungen auffallen, die Selbstverletzungen einseitig verharmlosen oder gar verherrlichen, dann melden Sie diese bitte immer zuerst an den Support der Plattform (z.B. über die Meldefunktion). Die Plattformbetreiber tragen als Anbieter von Speicherplatz für fremde Inhalte eine große Verantwortung. Sie können am schnellsten und effektivsten dazu beitragen, dass Kindern und Jugendlichen der Zugang zu diesen Inhalten erschwert wird.
Vermuten Sie selbstverletzende Verhaltensweisen bei Ihrem bzw. einem Kind, sollten Sie es nicht mit Appellen, Forderungen oder gar Zwang überfallen. Zunächst einmal: Es ist ganz normal, sich in einer solchen Situation hilflos und überfordert zu fühlen. Bewahren Sie Ruhe und reagieren Sie nicht mit Panik, Vorwürfen oder Drohungen. Der oder die Betroffene weiß mit einer bestimmten inneren Belastung nicht anders umzugehen, als sich selbst zu verletzen. Damit sendet er oder sie aber auch einen deutlichen Appell an die Außenwelt.
Versuchen Sie die Betroffene oder den Betroffenen direkt anzusprechen. Falls Gesprächsbereitschaft besteht, können Sie fragen, was im Leben so belastend ist, dass es nur mit Selbstverletzungen erträglich ist, und was Sie dazu beitragen können, dass die Probleme weniger selbstschädigend verarbeitet werden können. Bemühen Sie sich, Alternativen zum selbstverletzenden Verhalten aufzuzeigen.
Wenn dies nicht möglich ist, müssen Sie nicht untätig bleiben. Teilen Sie Ihre Beobachtungen einem anderen Menschen oder Kollegen, denen Sie vertrauen, mit. Überlegen Sie gemeinsam, wer Sie in dieser Situation unterstützen könnte oder wen Sie als Nächstes informieren sollten.
Holen Sie sich möglichst professionelle Unterstützung. Gerade Erwachsene, die unsicher sind, wie das Verhalten von betroffenen Kindern oder Jugendlichen zu bewerten ist und wie die Situation am besten angegangen werden kann, sollten sich möglichst Rat und Hilfe bei entsprechenden Beratungsstellen holen. Professionelle Hilfe in akuten Krisensituationen finden Sie z. B. bei schulpsychologischen Beratungsstellen, in Erziehungsberatungsstellen oder in Mädchen- und Frauentreffs.
Sie können schwer einschätzbare Inhalte auch von Expert*innen auf ihr Gefährdungspotenzial prüfen lassen. Hierbei können Sie sich beispielsweise an www.jugendschutz.net oder an www.internetbeschwerdestelle.de wenden.
Tipps für den Umgang mit akuten Gefährdungssituationen
Wenn das selbstverletzende Verhalten bereits sehr ausgeprägt oder schwerverletzend ist, sollten Sie Kontakt zu Kinder- und JugendpsychotherapeutInnen/-psychiaterInnen aufnehmen. Zur genauen Diagnostik ist die Zusammenarbeit mit erfahrenen Fachleuten unerlässlich. In der ambulanten und stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie finden Sie Fachkräfte für Diagnose, Therapie, Prävention und Rehabilitation bei selbstverletzendem Verhalten.
Weitere Tipps
- Herstellung eines guten und vertrauensvollen Kontaktes zum Kind/Jugendlichen,
- als Eltern akzeptieren, dass gerade in der Pubertät andere Erwachsene eher ins Vertrauen der Jugendlichen gezogen werden,
- selbstverletzendes Verhalten sowie andere Hinweise und Alarmzeichen für eine Gefährdung ernst nehmen,
- offen darüber sprechen,
- Vermeidung von Vorhaltungen oder Schuldzuweisungen,
- körperliche Nähe anbieten, auf Freiwilligkeit achten und nicht zur Nähe zwingen,
- den Betroffenen Rückhalt geben, egal was kommt,
- keine Verbote und Bestrafungen im Zusammenhang mit selbstverletzendem Verhalten aussprechen – Liebesentzug oder Schläge und andere körperliche Bestrafungen sind fehl am Platz,
- Bereitstellung von Verbandsmaterial und Desinfektionsmittel zur Wundversorgung und Salben zur Narbenpflege ist sinnvoller als Rasierklingen und Messer einzusammeln und wegzuwerfen,
- geduldiges und aufmerksames Zuhören,
- konkret nach Suizidgedanken fragen – die Sorge, dadurch Suizidimpulse anzuregen, ist unbegründet,
- auch von den eigenen Problemen und Ängsten im Zusammenhang mit selbstverletzendem Verhalten sprechen,
- vermitteln von Zuversicht, dass es Hilfe gibt, auch wenn die oder der Betroffene zunächst abwehrend reagiert,
- sich umfassend über selbstverletzendes Verhalten informieren (Bücher, Internet, Austausch mit Betroffenen),
- Vermittlung von professionellen Hilfeangeboten,
- Beachtung der Grenzen eigener Hilfebemühungen, d.h. lieber begrenzte, zuverlässige Hilfe anbieten als Versprechungen machen, die zu Enttäuschungen führen,
- sich selber Hilfe suchen, wenn Sie merken, dass Sie sich schlecht fühlen oder sich in Ihren normalen Aktivitäten zunehmend gelähmt fühlen.
- ignorieren, leugnen,
- ängstliche Vermeidung des Themas – dies verstärkt die ohnehin vorhandenen Scham- und Schuldgefühle bei Jugendlichen,
- das Wegnehmen oder Verstecken scharfer Gegenstände,
- Vorwürfe,
- das Stellen eines Ultimatums,
- Versprechungen machen, die man nicht einhalten kann („Ich bin immer für dich da, Tag und Nacht“),
- eigene Grenzen missachten.
Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf digitale Teilhabe in der Gesellschaft. Junge Userinnen und User sollten Online-Angebote selbstbestimmt, kritisch und kreativ, vor allem aber unbeschwert nutzen können. Dies erfordert einen zeitgemäßen Jugendschutz mit regulatorischen, technischen und erzieherischen Komponenten. Während jüngere Kinder mehr Schutz benötigen, werden mit zunehmendem Alter größere Freiheiten und Kompetenzen zum Selbstschutz wichtiger. Ergänzend benötigen Eltern und pädagogische Fachkräfte Tipps und praktische Hilfestellungen für die Medienerziehung.
Es ist wichtig, dass Eltern ihre Kinder aktiv im Internet begleiten, Bescheid wissen, wo sich ihr Kind mit wem austauscht, welche Themen, Dienste und Apps gerade angesagt sind und bei Problemen ein offenes Ohr haben. So können Eltern früh entgegenwirken, wenn ihr Kind in ein ungeeignetes Online-Umfeld gerät. Stärken Eltern das Selbstvertrauen und die Medienkompetenzen des Kindes, kann es sich leichter von gefährdenden Inhalten und Personen distanzieren. Generell ist es ratsam, dass Eltern ihrem jugendlichen Kind empfehlen, Webangebote, Foren, aber auch Profile von Gruppen und einzelnen Usern sowie Freundschaftsanfragen genau zu prüfen.